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Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 03.01.2006
Aktenzeichen: 8 TG 3292/05
Rechtsgebiete: GG, JAO
Vorschriften:
GG Art. 3 | |
JAO § 4 Abs. 1 S. 1 | |
JAO § 30 Abs. 1 |
Der Anspruch auf Schreibzeitverlängerung kann nur dann bestehen, wenn die Legasthenie durch ein amtsärztliches Gutachten nachgewiesen ist.
HESSISCHER VERWALTUNGSGERICHTSHOF BESCHLUSS
In dem Verwaltungsstreitverfahren
wegen Schreibzeitverlängerung im Rahmen der zweiten juristischen Staatsprüfung,
hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 8. Senat - durch
Richter am Hess. VGH Dr. Nassauer als Vorsitzenden, Richter am Hess. VGH Jeuthe, Richter am Hess. VGH Dr. Dieterich
am 3. Januar 2006 beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel - 1 G 2163/05 - abgeändert. Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, dem Antragsteller für das Anfertigen der Aufsichtsarbeiten in der zweiten juristischen Staatsprüfung eine Schreibzeitverlängerung von jeweils 30 Minuten zu gewähren.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz zu tragen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er hat einen Anspruch darauf, dass ihm wegen seiner unstreitig vorliegenden Legasthenie für die Anfertigung jeder Aufsichtsarbeit in der zweiten juristischen Staatsprüfung eine Schreibzeitverlängerung von 30 Minuten gewährt wird.
Der Anspruch folgt aus dem durch Art. 3 des Grundgesetzes geschützten Recht des Antragstellers auf Chancengleichheit im Prüfungsverfahren.
Beruft ein Prüfling sich zur Erlangung einer Schreibzeitverlängerung auf Legasthenie, dann kann ein Anspruch auf Schreibzeitverlängerung nur dann bestehen, wenn die Legasthenie durch ein amtsärztliches Gutachten nachgewiesen ist. Dies ist hier der Fall. Das Bezirksamt Mitte von Berlin - Abteilung Gesundheit und Soziales, Gesundheits- und Veterinär- und Lebensmittelaufsichtsamt - Amts- und Vertrauensärztlicher Dienst - Standort Mitte - hat in seiner von einer Fachärztin für Innere Medizin verfassten schriftlichen Stellungnahme vom 27. November 2002 ausgeführt, der Antragsteller sei Legastheniker und benötige aus diesem Grund mehr Zeit zur Bewältigung der Prüfungsklausuren. Die Legasthenie sei "gekennzeichnet als Schwäche im Sinnverständnis des Lesens (bei hinreichender Intelligenz und normal neurologischem Befund), dadurch auch Rechtschreibschwierigkeiten mit Verwechseln von Buchstaben, teilweise mit Reihenfolgeumstellungen." Zur Bewältigung der Klausuren - die Stellungnahme betraf das erste juristische Staatsexamen des Antragstellers - empfahl die Fachärztin eine Schreibverlängerung von 60 Minuten pro Klausur, um dem Antragsteller, der das Studium trotz Störung bewältigt habe, ausreichend Zeit zum Lesen und zum Korrekturlesen zu geben.
Der Senat hat keine Veranlassung, davon auszugehen, dass diese amtsärztliche Stellungnahme heute keine Gültigkeit mehr hat. Vielmehr handelt es sich bei der Legasthenie um einen Dauerzustand, wie er auch durch die vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen (Bescheid vom 2. März 1983, betreffend Ergebnisse der Untersuchung auf Lese-Rechtschreibschwäche, Gutachten zum Übergang in die Orientierungsstufe vom 17. März 1983, Schulzeugnis vom 13. Januar 1988, Humangenetisches Gutachten der Abteilung für medizinische Genetik im Institut für Humangenetik der Universität Würzburg vom 27. Dezember 2005) belegt ist. In dem Humangenetischen Gutachten vom 27. Dezember 2005 wird u. a. ausgeführt, dass auf Grund der vorliegenden Unterlagen bei dem Antragsteller eine genetisch bedingte Legasthenie vorliege. Es handele sich bei der Legasthenie um eine Teilleistungsstörung im schriftlichen Bereich, die jedoch mit keinerlei Einschränkungen der intellektuellen Funktion verbunden sei. Personen mit einer Legasthenie seien behindert im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes. Der Begriff der Behinderung sei in § 2 SGB IX für alle Leistungsträger definiert. Danach seien Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abwichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sei. Der Leiter des Instituts empfahl in dem humangenetischen Gutachten, dass die Behinderung des Antragstellers durch einen Nachteilsausgleich korrigiert werde.
Der Senat vermag der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nach allem nicht zu folgen. Es hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass Behinderungen, die lediglich den Nachweis einer uneingeschränkt vorhandenen Befähigung erschwerten und in dem angestrebten Beruf durch Hilfsmittel ausgeglichen werden könnten, in der Prüfung angemessen zu berücksichtigen seien. Es hat jedoch zu Unrecht das Vorliegen dieser Voraussetzung verneint und ausgeführt, bei der vom Antragsteller geltend gemachten Legasthenie handele es sich um einen Umstand, der sich als eine in seiner Person begründete, persönlichkeitsbedingte generelle Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit darstelle. Eine derartige Leistungsminderung bestimme das "normale" Leistungsbild des Prüflings; soweit sie sich im Prüfungsergebnis niederschlage, werde dessen Aussagewert gerade nicht verfälscht. Leistungsschwächen dieser Art seien vielmehr für die Beurteilung der Befähigung bedeutsam, die durch die Prüfung festgestellt werden solle. Die in der zweiten juristischen Staatsprüfung anzufertigenden Aufsichtsarbeiten dienten gerade der Feststellung, ob der Rechtsreferendar fähig sei, einen Vorgang in beschränkter Zeit zu erfassen und einen überzeugenden Lösungsvorschlag zu machen (vgl. § 48 Abs. 2 JAG). Vergleichbare Situationen werde der Antragsteller im Laufe seines Berufslebens immer wieder vorfinden. Unter Berufung auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz hat das Verwaltungsgericht sodann ausgeführt, es wäre mit dem Sinn und Zweck der Prüfung nicht zu vereinbaren, die hier infrage stehende Lese- und Rechtschreibschwäche durch Einräumen besonderer Prüfungsbedingungen auszugleichen zu suchen und dem Antragsteller auf diese Weise im Vergleich zu den anderen Prüflingen einen Vorteil zu verschaffen.
Diese Darlegungen überzeugen nicht. Der vom Verwaltungsgericht zitierte Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (vom 13. Dezember 1985 - 7 B 210/85 - Juris = NVwZ 1986, 377 f.) betraf keinen Rechtsstreit, in dem es um eine Schreibverlängerung ging. Vielmehr hatte in dem dem Bundesverwaltungsgericht zugrunde liegenden Fall der Beklagte die Prüfung für endgültig nicht bestanden erklärt und die Klägerin sodann die Aufhebung dieses Bescheides begehrt. Letztlich ging es demnach darum, ob ein Dauerleiden bei bereits absolvierter Prüfung zu prüfungsrechtlichen Konsequenzen führen muss, was das Bundesverwaltungsgericht verneint hat. Auch in dem vom Verwaltungsgericht zitierten Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (vom 16. Januar 1980 - 2 A 49/79 - DVBl. 1981, 591) ging es darum, dass die Prüfungsbehörde die erste juristische Staatsprüfung für nicht bestanden erklärt und der Prüfling sich mit der Behauptung gegen dieses Ergebnis gewandt hatte, er sei zum Zeitpunkt des Prüfungsversuchs prüfungsunfähig gewesen.
Soweit beiden Entscheidungen entgegen der hier vertretenen Auffassung auch die konkludente Feststellung zu entnehmen sein sollte, ein Dauerleiden könne nicht zu einer Schreibzeitverlängerung führen, vermag der Senat dem nicht zu folgen, denn es ist allgemein anerkannt, dass Schreibzeitverlängerungen angemessenen Umfangs auch bei dauerhaften schweren körperlichen Behinderungen zu gewähren sind (vgl. Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Bd. 2, Prüfungsrecht, 4. Aufl., 2004, Rdnrn. 122 und 399, m.w.N.; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, 2. Aufl., 2001, Rdnrn. 225, 561, 677 und 937, ebenfalls m.w.N.).
Es sind keine sachlichen Gründe dagegen ersichtlich, dass dies auch im Falle sonstiger Dauerbehinderungen gilt, die - wie die Legasthenie - die Fähigkeit, einen juristischen Fall zu durchdringen und in angemessener Zeit eine Lösung zu entwickeln, unberührt lassen, und nur die technische Umsetzung der vorhandenen geistigen Fähigkeiten - sei es im Rahmen der Rezeption des Sachverhalts, sei es im Rahmen der handschriftlichen Darlegung des gefundenen Ergebnisses - behindern. Es trifft zwar zu, dass es auch zu den abzuprüfenden Fähigkeiten eines Juristen gehört, den Sachverhalt in angemessener Zeit zu erfassen und zu durchdringen. Diese Fähigkeit wird durch die Legasthenie jedoch nicht behindert. Der Legastheniker ist - ebenso wie ein blinder Prüfling, dem je nach den Umständen des Falles unstreitig ebenfalls Schreibzeitverlängerung zu gewähren ist - uneingeschränkt in der Lage, einen ihm unterbreiteten - etwa vorgelesenen - Sachverhalt zu erfassen. Seine Probleme liegen nur darin, dass er - wie ein Sehbehinderter oder Blinder - im Rahmen der technischen Fertigkeit des Lesens und auch in der technischen Fertigkeit des Schreibens behindert ist. Damit steht aber auch fest, dass Prüflinge, die - auch genetisch bedingt - auf Dauer in ihrer intellektuellen Fähigkeit beschränkt sind, einen Sachverhalt richtig zu erfassen und in angemessener Zeit einer plausibel begründeten Lösung zuzuführen, keinen Anspruch auf Schreibzeitverlängerung haben können. Nur derjenige, der unabhängig von seinen intellektuellen Fähigkeiten in der Technik der Leistungserbringung behindert ist, kann derartiges verlangen. So liegen die Dinge im Falle der Legasthenie. Der Legastheniker ist in der Technik der Leistungserbringung, nämlich in der technischen Fertigkeit des Lesens und Schreibens, behindert. Seine Behinderung bezieht sich nicht auf die eigentliche juristische Leistung, nämlich auf die Fähigkeit, einen Sachverhalt aufzunehmen und zu verstehen sowie die weitere Fähigkeit, den Fall in angemessener Zeit einer plausibel begründeten Lösung zuzuführen.
Der Senat folgt daher der Auffassung des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts in seinem Beschluss vom 19. August 2002 - M 41/02 -. Dieses Gericht hat im Falle einer Ärztlichen Vorprüfung eine Verlängerung der Bearbeitungszeit von 30 Minuten je Prüfungstag gewährt und zur Begründung u. a. ausgeführt:
"Dauerleiden, die als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die Leistungsfähigkeit eines Prüflings prägen, dürften grundsätzlich zwar keine Arbeitszeitverlängerung im Wege des Nachteilsausgleichs rechtfertigen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.12.1985 - 7 B 210.85 -, DÖV 1986, 477). Etwas anderes gilt jedoch für solche Behinderungen des Prüflings, die nicht die in der Prüfung zu ermittelnde wissenschaftliche Leistungsfähigkeit, sondern lediglich den Nachweis derselben beeinträchtigen, in derartigen Fällen verlangen der Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) und das Grundrecht der freien Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG) bei der Ärztlichen Vorprüfung ausnahmsweise einen Nachteilsausgleich durch Einräumung besonderer Prüfungsbedingungen (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.08.1977 - VII C 50.76 -, Buchholz 421.0, Prüfungswesen, Nr. 85; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 16.01.1980 - 2 A 49/79 -, DVBl. 1981, 591, und Niehues, Prüfungsrecht, 3. Aufl., Rn. 156). Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Antragsgegners gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die legastheniebedingte langsamere Lesegeschwindigkeit des Antragstellers seine Fähigkeit beeinträchtigen könnte, die Aufgaben der Ärztlichen Vorprüfung - deren Inhalt ergibt sich aus § 22 Abs. 1 ÄAppO - wissenschaftlich zu durchdringen. Vielmehr benötigt der Antragsteller nach seinem unbestrittenen erstinstanzlichen Vorbringen wegen seiner Legasthenie längere Zeit als die Mitprüflinge nur insoweit, als es darum geht, die Aussagen der Prüfungsfragen in ihrer "Semantik" nachzuvollziehen. Hierbei handelt es sich um einen Umstand, der außerhalb der in der Ärztlichen Vorprüfung zu ermittelnden wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit liegt (so im Ergebnis auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.09.2000 - 9 S 1607/00 -)."
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist diese Rechtsprechung durchaus auf die Frage einer einem Legastheniker zu gewährenden Schreibzeitverlängerung im Rahmen der zweiten juristischen Staatsprüfung übertragbar. Denn auch hier geht es - wie bereits ausgeführt - nicht um die fehlende intellektuelle Fähigkeit des Legasthenikers, einen Sachverhalt aufzunehmen, zu verstehen und zu durchdringen. Diese Fähigkeit ist bei dem Legastheniker genauso beschränkt oder unbeschränkt vorhanden wie bei jedem anderen Prüfling. Vielmehr geht es auch hier um eine Behinderung, die nicht die in der Prüfung zu ermittelnde wissenschaftliche Leistungsfähigkeit, sondern lediglich die Lese- und Schreibtätigkeit als technischen Vorgang beeinträchtigt.
In Übereinstimmung mit dem Antragsteller hält auch der Senat eine Schreibzeitverlängerung von 30 Minuten je Aufsichtsarbeit für angemessen, was 10 % der vorgeschriebenen Schreibzeit von fünf Stunden ausmacht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 und § 47 Abs. 1 und 2 GKG. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass mit dem Verfahren das Hauptsacheverfahren weitgehend vorweggenommen wird, erscheint der volle Auffangstreitwert in Höhe von 5.000,00 € angemessen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
Ende der Entscheidung
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